Netzpolitik zwischen Bodensee und Matterhorn

Netzpolitik in der Schweiz: Zwischen Bodensee und Matterhorn

Vom 27. bis 30. Dezember 2021 fand der Kongress (rC3) des CCC (Computer Chaos Club) erneut nicht vor Ort in Leipzig, sondern online statt. Auch im Schatten von Corona ging es in der Schweizer Netzpolitik drunter und drüber. Mit gewohntem Schalk wurde auf das netzpolitische Jahr 2021 zwischen Bodensee und Matterhorn zurück geblickt und jene Themen diskutiert, die relevant waren und relevant bleiben. Weiter wurde gezeigt, was von der Digitalen Gesellschaft in der Schweiz im neuen Jahr zu erwarten ist. Weiter unten in diesem Beitrag der Link zur Videoaufzeichung, sowie das Transkript der Präsentation.

Themen

  • Elektronische Identifizierung (E-ID): Die netzpolitische Community kann fulminant eine Volksabstimmung gewinnen! Doch wie verläuft die Debatte für eine neue E-ID?
  • Covid-Zertifikat und Contact Tracing: Massenüberwachung oder Vorzeigeprojekte? Wie so oft gibt es Graustufen.
  • meineimpfungen.ch: Manchmal fehlen die Graustufen auch.
  • Justitia.Swiss: Wenn ohne Gesetz bereits beschafft wird – tut sich auch ein Bundesverwaltungsgericht schwer.
  • Netzneutralität: Geht doch (nach Wink mit dem Zaunpfahl)
  • Gesichtserkennung: Massenüberwachung im öffentlichen Raum – wollen wir nicht.
  • Digitale Gesellschaft in der Schweiz: Winterkongress, neue Fachgruppen und andere Aktivitäten.

Nach dem Vortrag waren alle interessierten Personen eingeladen, die Diskussion im virtuellen Hackerspace fortzusetzen. Es waren Aktivistinnen und Aktivisten von verschiedenen Organisationen der Netzpolitik in der Schweiz anwesend.

Über Patrick Stählin (Packi)

Patrick Stählin (Ressort Beistand, Co-Präsident) hat Informationstechnologie an der ZHAW studiert und arbeitet als Softwareentwickler. Er schreibt Vernehmlassungsantworten zu sicherheits- und netzpolitischen Themen und setzt sich für offene Daten und Opensource Software ein.

Über Erik Schönenberger (Kire)

Erik Schönenberger ist Informatiker und Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, die er mit initiiert hat. Die 10 Jahre davor hat er sich mit IT-Security beschäftigt. Sein Interesse gilt dem Spannungsfeld aus Technologie, Gesellschaft und Recht.

Über den Chaos Computer Club

Der Chaos Computer Club e. V. (CCC) ist die grösste europäische Hackervereinigung und seit über 30 Jahren Vermittlerin im Spannungsfeld technischer und sozialer Entwicklungen. Die Aktivitäten des Clubs reichen von technischer Forschung und Erkundung am Rande des Technologieuniversums über Kampagnen, Veranstaltungen, Politikberatung, Pressemitteilungen und Publikationen bis zum Betrieb von Anonymisierungsdiensten und Kommunikationsmitteln.

Der Club besteht aus einer Reihe dezentraler lokaler Vereine und Gruppen. Diese organisieren regelmässige Veranstaltungen und Treffen in vielen Städten des deutschsprachigen Raums. Der CCC vermittelt seine Anliegen über vielfältige Publikationswege und sucht stets das Gespräch mit technisch und sozial Interessierten und Gleichgesinnten. Ausserdem fordert und fördert er den Spass am Gerät und lebt damit die Grundsätze der Hackerethik.

Credits

  • Beitragsbild von Joshua Earle
  • Video des Vortrags

Transkript

Patrick Stählin (Packi): Vielen Dank für die Einführung und die netten Worte. Das ist Kire, ich bin Patrick und danke an Euch, dass Ihr euch wieder mal Zeit nehmt, um in Erfahrung zu bringen, was dieses Jahr gelaufen ist und was uns nächstes Jahr wohl wieder erwartet. Die digitale Gesellschaft, das sind nicht nur wir beide, sondern das sind all diese Vereine. Wir sind ein Zusammenschluss von sehr vielen netzpolitisch und zivilgesellschaftlichen Vereinen. Die Vereine auf dieser Folie sind Teil davon und bilden die digitale Gesellschaft. Wie in den letzten Jahren üblich, begeben wir uns auf eine Reise vom Bodensee zum Matterhorn und wir starten mit Reiseleiter Kire.

Erik Schönenberger (Kire): Vielen Dank, Packi! Wir beginnen unsere Reise durch die Netzpolitik 2021 in der Bundeshauptstadt. Das Thema ist, man ist versucht zu sagen mal wieder und wohl auch nicht zum letzten Male, die elektronische Identität, die eID. Es geht natürlich um das Referendum gegen die Privatisierung des elektronischen Ausweises. Wir erinnern uns, was als Kampagne mit einer selbstgebastelten eID im Juli 2019 begann, hier vor der Debatte im Ständerat, führte über eine erfolgreiche Unterschriftensammlung zur Übergabe von 65000 beglaubigten Unterschriften an die Bundeskanzlei im Januar 2020 und gipfelte dann vor einem Jahr in der Abstimmungs-Kampagne. Bei dieser hatte das Bundesrat-Parlament und Wirtschaftsverbände gegen uns abgestimmt. Der Abstimmungskampf wurde dann vom (?), aber auch durchaus mit harten Bandagen geführt.

So wurde zum Beispiel der Inhalt des Abstimmungs-Büchleins bis Mitte Januar geheim gehalten. Darin und auch in der Medienkonferenz von Bundesrätin Karin Keller Sutter wurde behauptet, dass die eID staatlich sei. Es wurde immer wieder der Eindruck erweckt, dass der Kanton Schaffhausen eine eID für die ganze Schweiz herausgeben würde, was aber überhaupt nicht beschlossen war und auch etwas seltsam gewesen wäre. Auch die NZZ kam zum Schluss, dass diese Aktion perfekt orchestriert war. Entsprechend sahen wir uns gezwungen eine Abstimmungs-Beschwerde einzureichen, die wir dann aber nicht weiter gezogen haben, respektive die wir nicht weiter ziehen mussten. Eine zweite Beschwerde wurde nötig. «Digital Switzerland» der Wirtschaftsverband veröffentlichte in verschiedenen Medien von Ringier Werbung für die eID, ohne sie als Werbung zu kennzeichnen. Dieses politische Advertising ist höchst problematisch. Es ist eine gefährliche Manipulation demokratischer Prozesse und war auch einzigartig. Nicht verwunderlich verlangt der Presserat eine deutliche Trennung zwischen redaktionellen Beiträgen und bezahlter Werbung. Der Presserat hat uns entsprechend vollumfänglich Recht gegeben, allerdings erst nach der Abstimmung.

Erik Schönenberger (Kire): Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist noch die Tatsache, dass «Digital Switzerland» von Ringier Konzernchef Marc Walder initiiert worden ist. Die Organisation führt auch den jährlichen Digital Tag durch und an der Digital «Chilbi» (Jahrmarkt), wie böse Zungen sie auch nennen, wurde 2018 auch die Swiss ID mit grossem Brimborium lanciert. Trotz all diesem, ließen sich die StimmbürgerInnen jedoch nicht beirren. Mit einer wuchtigen, fast Zweidrittelmehrheit, haben sie die eID oder das Gesetz für die eID abgelehnt. Damit wurde die erste Volksabstimmung über ein rein digitales Thema zu einem riesigen Erfolg für die netzpolitische Community in der Schweiz. Was allerdings sowohl bei Bundesrätin Karin Keller Sutter wie auch beim Tagesanzeiger zu eigenartigen Kommentaren führte war, dass die Gewinnerinnen der Abstimmung ihre Haltung ändern und über ihren Schatten springen müssen, ist auch eine reichlich ungewöhnliche Forderung. Auf jeden Fall haben diese angesprochenen Nerds nur gerade drei Tage später geliefert.

Gemeinsam mit drei PolitikerInnen aus unterschiedlichen Parteien hatten wir einen Text für einen parlamentarischen Vorstoss vorbereitet, der dann sechs Mal, also von sämtlichen Fraktionen, in Form einer Motion eingereicht worden ist. Ein solcher Schulterschluss hat es wohl im Anschluss an eine Abstimmung noch nie gegeben. Dies musste dann auch der Bundesrat zur Kenntnis nehmen worauf das Bundesamt für Justiz ein neues Zielbild für eine zukünftige eID verfasst hat und dieses an einer Konferenz zur Diskussion gestellt hat und vor zwei Wochen hat der Bundesrat nun seinen Richtungsentscheidung gefällt. Dieser sieht eine eID auf folgenden Prinzipien vor Self-Sovereign Identity, privacy-by-design, privacy-by-default, dezentrale Datenspeicherung. Dies ist ein riesiger Erfolg und war vor einem Jahr noch absolut undenkbar. Mit dieser Entwicklung haben sich auch Begriffe in der Politik festgesetzt, weil die die meisten PolitikerInnen vor einem Jahr noch nicht einordnen konnten und die sich hoffentlich auch in anderen Digitalisierung Vorhaben niederschlagen und sich vielleicht auch bis nach Gümligen herumsprechen.

Patrick Stählin (Packi): Ja, ich hoffe es doch. Denn direkt an die Stadt Bern angrenzend befindet sich Gümligen, welche sich vor ein paar Jahren zu Muri-Gümligen zusammengeschlossen hat. Das ist so eine Eigenheit in der Schweiz, dass Gemeinden fusionieren, um Verwaltungskosten zu sparen und so weiter. In diesem Muri-Gümligen befindet sich die Stiftung MeineImpfungen.ch. Das Ziel der Stiftung, das Impftbuch oder Impf-Büchlein wie wir in der Schweiz sagen, indem Impfungen analog mit Stempel und allem erfasst werden, zu digitalisieren.

Die Stiftung hatte bis Anfang 2020 zirka 100000 Benutzer auf der Plattform, die dann bis Anfang dieses Jahres bis auf ca. 350 000 gestiegen sind. Man hat sich ein bisschen mehr um seine Gesundheit gekümmert im letzten Jahr und auch die Frage gestellt: «Wo ist man im Impfbuch und braucht es das überhaupt noch?». Die Stiftung wurde vom Bund von rund zwei Millionen Franken unterstützt. Weitere 250000 sollen schon zugesprochen worden sein, als sich diese Geschichte dann entfaltet hat. Nun, anfangs dieses Jahres hat sich die Republik, das ist ein Online-Magazin in der Schweiz, mal diese Sache ein bisschen genauer angeschaut. Das erste, was einem so auffällt ist, man geht auf die Plattform und schaut sich die Datenschutzerklärung an und die war etwas dünn.

Nach der Anfrage und einem Artikel sah das dann so aus, neben ein paar technischen Sicherheitslücken wie eine SQL Injektion und eine Cross Site Scripting Lücke, kann ja mal passieren, wurde etwas Kritisches gefunden. Und zwar gibt es auf dieser Plattform zwei Benutzergruppen. Jeder Mensch kann sich als Fachperson anmelden und/oder als Benutzer. Die Fachpersonen, haben Zugriff auf alle Daten dieser Plattform, vereinfacht gesagt. Als Fachperson kann man sich anmelden mit einer EAN oder GLN Nummer, die in einem öffentlichen (?) drinstehen:w Name, Vorname und diese Nummern. Das heisst, man muss noch irgendwie eine E-Mail-Adresse haben, z.B. KlinikenDigitaleGesellschaft.ch, die sicherlich bis 3 Sekunden noch frei war und dann hat man eine gut klingende E-Mail-Adresse, die wahrscheinlich auch nicht zu gross geprüft wird. Damit der Account freigeschaltet wird, zumindest in der Theorie, muss man noch belegen können, dass man eine medizinische Ausbildung hat, wie z.B. möchte eine Kopie einer Health Professional Card.

Nun, ich habe noch nie so eine gesehen, bis die Republik dann ein bisschen gegoogelt hat und dann bei der Schweizerischen Ärztezeitung diese schöne Darstellung gefunden hat. Ich denke, jeder der mit Photoshop ein bisschen talentiert ist, kann mir daraus einen schönen Ausweis basteln. Aber man muss gar nicht bis zur Urkundenfälschung gehen, denn man kann einfach sagen, «Ich habe mein Passwort vergessen» und dann bekommt man den Account freigeschaltet. Man sieht zwar gewisse Minipunkte nicht, die dann im HTML einfach auskommentiert waren, aber man kann auf Patientendaten zugreifen. Die Impf-Ausweise wurden abgelegt mit dem Datum als Primärschlüssel.

Das heisst, man konnte dann in der URL diesen Zeitstempel einbauen und bekam dann den Impf-Ausweis zurück. Ja, und innerhalb von 15 Minuten hat man wahrscheinlich den ersten Treffer, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Leute sich erst als es losging mit der ganze Kampagne, registriert hatten. Nun, es kam, wie es kommen musste. Die Stiftung hat den Betrieb der Website aufgegeben und im Nachhinein kamen dann noch ein paar Sachen zum Vorschein wie Benutzerdaten wurden nicht gelöscht, weil man sie ja wieder herstellen musste. Ein Benutzer wurde darüber informiert, dass seine Daten eventuell geleakt wurden und er hatte dann angemerkt, seine Daten seien eigentlich seit 6 Jahren gelöscht. Etwas erschreckender ist, dass man jetzt aber beim Bundesamt für Gesundheit diese Plattform auserkoren hatte, anfangs Jahr, um die Covid-Impfung zu verwalten.

Das wurde dann in der letzter Minute vom Parlament, wahrscheinlich auch durch die ganze CovidApp-Vorgeschichte, in letzter Minute verhindert und sie haben gefordert, dass die Impfung nicht von einer zentralen Stelle kontrolliert werden soll, sondern dass das dezentral funktionieren muss. Die Sache ist noch nicht ganz ausgestanden, weil das elektronische Patientendosier hat den genau gleichen zentralistischen Ansatz. Auch dort sollen Fachpersonen auf alle Daten zugreifen können und die Daten sollen zentral gelagert werden. Wir hoffen, dass diesmal wenigstens die Identifizierung der Fachpersonen richtig gemacht wird. Doch man soll sich nicht auf Hoffnung verlassen. In einer Motion fordert jetzt der Nationalrat Marcel Dobler von den Liberalen, dass man zumindest das Impfbuch mit der neue Zertifikats App weiter brauchen kann.

Ob das wirklich so eine gute Idee ist, muss man sich fragen, denn es gab doch ein paar Fälschungen dort und meine (?) ist klar, aber auch eine Gelbfieber Impfung sich zu fälschen und in einem anderen Land in das Spital zu geraten, ist nicht so die nette Art. Wenn relativ viele Leute Zugriff auf unsere Gesundheitsdaten haben, so wird es statistisch immer Leute geben, welche diese ausnutzen wollen.

Patrick Stählin (Packi): Beim nächsten Thema sind wir ebenfalls in der Nähe von Bern in Ittigen, befindet sich der Hauptsitz des hauptstaatlichen Telekommunikationsunternehmen «Swisscom». In diesem Segment geht es also mal wieder um Daten-Reichtum. Bei der Swisscom wurden bereits 2017 Daten von circa 800000 Kunden abgezogen, darunter Name, Telefonnummer, Adresse und Geburtsdatum.

Laut dem schweizerischen Datenschutzgesetz nicht besonders schützenswerte Daten. Und nachdem der Datenschützer dann interveniert hatte, benachrichtigte die Swisscom dann doch ihre Kunden. Zuvor hatten sie in einem internen Papier gesagt, sie bräuchten dies nicht zu machen. Das führte dann zu einem regelrechten Ansturm an Datenauskunfts-Begehren. Diese stehen in der Schweiz jeder Person zu. um zu erfahren, welche Daten über sie gespeichert oder bearbeitet werden. Das hat uns dann ein bisschen dazu veranlasst, das war ein Projekt, das wir eigentlich schon länger machen wollten, einen Datenauskunfts-Generator zu erstellen. Dieser ist jetzt auf datenauskunftsbegehren.ch zugänglich.

Die Auskunft, kann man sich in drei Minuten zurecht klicken. Man wählt die Firma aus, in unserem Fall die Swisscom, gibt seine Daten an, wichtig hier ist, wir wollen eure Daten nicht, das heisst, die Daten, bleiben im Browser liegen und wenn man das dann gemacht hat, klickt man auf Brief generieren und schon hat man ein Schreiben, dass auch schön in ein Briefumschlag reinpasst, kann das ausdrucken und weiter unten noch seine eID scannen, die kommt dann ebenfalls in dieses Dokument rein. Falls jetzt eine Firma fehlen sollte, dann geht auf GitHub und macht uns ein Issue auf oder macht gleich ein Pull-Request auf. Der Code ist natürlich öffentlich zugänglich. Hier noch zu sagen, dass eine eID-Karte nicht immer notwendig ist. Wenn man sich bereits mit einer E-Mail-Adresse angemeldet hat bei einem Dienst und denen von dieser E-Mail-Adresse als eine Mail schickt, dann wird das meist akzeptiert. Und jetzt geht es Kire weiter im Osten.

Erik Schönenberger (Kire): Auf unserer netzpolitischen Reise durch die Schweiz machen wir den nächsten Halt in Sankt Gallen. Es geht um eine jüngere Baustelle in der Netzpolitik, respektive eher um eine heisse Kartoffel, nämlich um das Projekt Justitia 4.0 und die Plattform justitia.swiss. Diese soll die neue Plattform zur elektronischen Kommunikation in der Justiz werden. Betroffen von diesem Vorhaben sind alle an Gerichtsverfahren beteiligten Parteien und es soll die gesamte Kommunikation unter diesen umfassen. Hierzu soll ein neues Gesetz geschaffen werden, das die Basis bilden soll und zu dem wir im Frühling eine Stellungnahme verfasst haben. Darin haben wir verschiedene Dinge bemängelt.

So wird beispielsweise auf Verschlüsselung nicht näher eingegangen. Offensichtlich ist aber keine Ende-zu-Ende Verschlüsselung und auch keine Open Source Lizenz vorgesehen. Obwohl also zentrale Fragen umstritten sind und das Gesetz frühestens 2025 in Kraft treten wird, soll die Software bereits jetzt beschafft und bis in zwei Jahren in Betrieb genommen werden und dies alles ohne gesetzliche Grundlage. Mit diesem Vorgehen wird der demokratische und rechtsstaatliche Prozess auf den Kopf gestellt. Damit werden Tatsachen geschaffen, die vom Gesetzgeber entweder übernommen werden müssen, oder die bereits eingeführte Plattform müsste mit viel Aufwand an das Gesetz angepasst werden.

Im schlimmsten Fall droht gar ein weiteres Millionengrab bei einem IT-Projekt. Das Dilemma, in das sich die Projektverantwortlichen mit der Ausschreibung begeben haben, zeigt sich bereits exemplarisch bei der Wahl der Beschaffungsstelle. Diese wird in der Ausschreibung mit Projekt Justitia 4.0 benannt. Mit Hinweis auf eine zukünftige «Überführung des Projekts in eine öffentlich rechtliche Körperschaft». Es wird also auf Basis einer möglicherweise in einigen Jahren bestehenden gesetzlichen Grundlage und einer zukünftigen Körperschaft beschafft. Ziemlich skurril. Um den ordentlichen Prozess zurückzubekommen und eine demokratische Debatte zu ermöglichen, haben wir gegen die Ausschreibung eine Beschwerde eingereicht.

Das Bundesverwaltungsgericht in Sankt Gallen hat leider eine aufschiebende Wirkung abgelehnt. Nun steht ein Urteil zur möglicherweise nichtigen Ausschreibung an. Was zu sagen ist, im Verfahren will uns das Gericht bis jetzt keine Legitimität zur Beschwerde zuerkennen. Generell scheint wenig Wille für eine inhaltliche Beurteilung vorhanden, obwohl das Gericht von Amtswegen dazu verpflichtet wäre. Es scheint eher diese heiße Kartoffel loswerden zu wollen. In der Zwischenzeit wird mit der Beschaffung unbeirrt fortgefahren, obwohl diese Justierung durchaus möglich und eine solche auch angebracht wäre, besteht doch ein großes Risiko. Während der schriftlichen Verhandlung am Gericht haben wir parallel mehrere Verfahren angestrengt, um via Öffentlichkeits-Gesetz an die Dokumente zum Werdegang des Projekts heranzukommen.

Und obwohl das Bundesamt für Justiz lange und auch gegen die Empfehlung des eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeit-Beauftragten weigerte, die Dokumente herauszurücken, konnten wir dennoch heute Mittag die ersten 300 Seiten zur weiteren Erforschung veröffentlichen. Sie sind auf digitaler-gesellschaft.ch Einsehbar. Weitere Dokumente wollen wir im Rahmen des Gerichtsverfahrens erkämpfen. Weiter geht es nun auf einen Abstecher nach Biel. Dies ist der Standort vom Bundesamt für Kommunikation, dem BAKOM, wir machen den Abstecher für ein kleines Update zur Netzneutralität.

Erik Schönenberger (Kire): Wir erinnern uns, nach einem langjährigen Kampf ist seit dem 1. Januar das neue Fernmeldegesetz in Kraft und damit der Artikel 12e zum offenen Internet, der die Netzneutralität festschreibt. Es gibt zwar noch ein paar Ausnahmen zu diesem ersten Abschnitt, den wir hier sehen, im Grundsatz ist es aber ein sehr fortschrittliches Gesetz, das auch wirtschaftliche Diskriminierung wie Zero-Rating klar verbietet, im Gegensatz zum Beispiel zur Regelung in der EU, die da weniger konkret ist. Im Januar jedoch, hatten dann aber Salat und auch Sunrise weiterhin Handy Abos mit Zero-Rating im Angebot, bei denen zum Beispiel der WhatsApp-Traffic nicht vom monatlichen Datenvolumen abgezogen wird und damit alle anderen Messenger Anbieter diskriminiert werden.

Beide Anbieter waren sich dem Verstoss durchaus bewusst, hatten sie sich doch in der parlamentarischen Debatte hartnäckig gegen ein Verbot von Zero-Rating gewehrt. Wir haben daher beim BAKOM Anzeigen eingereicht und auf mögliche Bussen hingewiesen. Nach der Intervention vom BAKOM sind die Angebote dann auch tatsächlich verschwunden. Was auf der einen Seite gut ist, auf der anderen Seite aber auch bedenklich ist, dass zuerst eine NGO eine Anzeige einreichen muss, bevor die Aufsichtsbehörde aktiv wird und dann auch noch auf eine Buße verzichtet wird. Nach diesem kurzen Abstecher nach Biel gehen wir nach Zürich und Lausanne.

Patrick Stählin (Packi): Genau, wir sind jetzt gleichzeitig in Zürich und Luzern angelangt, wie das gleichzeitig geht, kann ich nicht ganz erklären, hat irgendwas mit Quantenphysik zu tun, das ist nicht mein Fachgebiet, aber wo ich mich besser auskenne, ist beim nächsten Thema und dort geht es um Gesichtserkennung. Zusammen mit Amnesty International Schweiz und Algorithm Watch Schweiz haben wir im Herbst eine Kampagne lanciert. Darin fordern wir ein Verbot von automatisierter Gesichtserkennung auf öffentlichem Grund.

Um diese Forderung noch ein bisschen mehr Gewicht zu verleihen, wurden in den Städten Luzern und Zürich parlamentarische Vorstösse eingereicht, welche das Verbot von Gesichtserkennung auf lokaler kommunaler Ebene fordern und zudem haben wir eine Petition gestartet, die schweizweit gilt, welche die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum in der Schweiz stoppen soll. Es sind bereits ca. 5 000 Unterschriften reingekommen. Eine Petition kann von allen Menschen unterzeichnet werden. Man muss dazu weder stimmberechtigt sein, noch volljährig, noch den Wohnort in der Schweiz haben und wir planen diese Petition dann in ca. 50 Tagen einzureichen.

Um auf diese Kampagne aufmerksam zu machen, wurden in Deutschland und der Schweiz noch diverse Staaten verhüllt. Die Idee dazu kam von der Kampagne «Reclaim your Face». Wir haben auch immer noch Papiertüten, wer noch ein Selfie machen will mit der Papiertüte über dem Kopf. Die Petition, die findet ihr unter gesichtserkennung-stoppen.ch. International läuft diese Kampagne unter reclaimyourface.eu und dort könnt ihr natürlich auch noch unterschreiben. Und nun kommen wir bereits zu unserem letzten Blog mit Kire.

Erik Schönenberger (Kire): Ja, wir beenden unsere Reise durch die netzpolitischer Schweiz in Basel, dem Sitz der digitalen Gesellschaft und weisen an dieser Stelle gerne auf Veranstaltungen und Treffen hin. Ursprünglich hatten wir den Winter Congress wieder in der Roten Fabrik in Zürich geplant, nun wird die Veranstaltung Ende Februar Hybrid stattfinden. Das heisst, wir werden sicher vor Ort produzieren und per Videokonferenz und Chat den Kongress verbreiten. Allenfalls wird es auch die Möglichkeit geben, sich vor Ort zu treffen. Wir werden die Entwicklung weiter beobachten und entsprechend informieren. Der Kongress wird also am Freitagabend 25. und am Samstag 26. Februar 2022 stattfinden.

Es stehen wieder fast 30 Vorträge und Workshops auf dem Programm. Es wird auch wiederum verschiedene Möglichkeiten zur Interaktion geben. Das Programm und die Tickets sind ab sofort erhältlich. Auf winterkongress.ch. Dann gibt es weitere regelmässige Treffen. Das nächste Netzpolitik treffen, wo sich alle interessierten Gruppen und Personen aus der Schweiz austauschen, findet am Samstag, 7. Mai 2022 statt. Zum hybriden Stammtisch treffen wir uns weiterhin jeden dritten Donnerstag im Monat und jeweils in der ersten Woche im Monat, finden an vier Orten in der Schweiz Netzpolitik Mittagessen statt, demnächst auch in der Romandie. Alle nötigen Infos gibt es auf digitale-gesellschaft.ch.

Wir sind auch an der (?) nun gleich im Anschluss an diesem Talk, treffen wir uns zu einem virtuellen Austausch per Big Blue Button. Wer sich für Netzpolitik in der Schweiz interessiert, ist herzlich eingeladen teilzunehmen. Wir sprechen da auch über die Themen, die uns 2022 beschäftigen werden und wie man sich aktiv einbringen kann, wenn gewünscht. Wir können da auch noch weiter Fragen zum Vortrag beantworten und stehen aber auch jetzt noch für Fragen zur Verfügung. Wir danken, dass ihr mit uns gereist seid.

Patrick Stählin (Packi): Vielen Dank!

Moderator: Vielen Dank euch beiden. Eine Sache, da ihr ja das Publikum nicht sehen könnt. Ihr hattet hier gewisses Feedback im Raum. Als ihr nämlich euren Auskunfts-Generator gezeigt habt, ging ein grosses Lachen durch den Raum. Das scheint hier sehr viel Anklang gefunden zu haben. Online gab es eine Frage und zwar ist es richtig verstanden worden, dass man als als als Deutscher die Petition mit unterzeichnen kann?

Patrick Stählin (Packi): Genau eine Petition hat in der Schweiz eigentlich keine Voraussetzung, wer jetzt was unterschreiben kann, das völlig egal.

Moderator: Vielen Dank euch beiden, wunderbarer Talk. Dankeschön.

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