Der Weg zur Kaufentscheidung wird immer komplexer

Alistair Rennie und Jonny Protheroe beschäftigen sich bei Google unter anderem damit, Änderungen im Nutzerverhalten aufzuspüren und zu untersuchen. Im November berichteten die beiden von neuen Erkenntnissen über den Prozess von Kaufentscheidungen – und über ein neues Modell, das diesen widerspiegelt. Dr. Verena Sander aus dem Market Insights-Team bei Google ergänzt die neuen Erkenntnisse mit den Ergebnissen einer gross angelegten Studie aus Deutschland. Beide Untersuchungen sind auch als Download im ursprünglichen Artikel verfügbar (Link weiter unten).

Die Art und Weise, wie wir Entscheidungen treffen, ist sehr komplex – und sie wird immer unübersichtlicher. Als grundlegende Erkenntnis über das Kaufverhalten gilt heute: Der Weg vom ersten Kaufanreiz bis zum Abschluss verläuft keinesfalls linear. Er ähnelt eher einer chaotischen Reise mit vielen Touchpoints, die bei jedem Käufer anders verläuft. Allerdings hatten wir bisher kein klares Bild davon, wie Käufer die Informationen und Angebote verarbeiten, die ihnen während des Kaufprozesses präsentiert werden. Daher war die Frage entscheidend, was die endgültige Entscheidung für ein bestimmtes Produkt beeinflusst. Genau darauf wurden die Untersuchung ausgerichtet.

Was uns die Verhaltensforschung über den Prozess der Kaufentscheidung verrät

Gemeinsam mit den Verhaltensforschern von «The Behavioural Architects» wurde untersucht, wie Nutzer sich dazu entscheiden, ein bestimmtes Produkt zu kaufen. Es wurde eine Literaturrecherche betrieben, Kaufprozesse studiert, Suchtrends analysiert und ein umfassendes Experiment durchgeführt.

All das sollte helfen, zu verstehen, wie Nutzer angesichts der überwältigenden Auswahlmöglichkeiten und Informationsflut online Entscheidungen treffen. Dabei wurde festgestellt, dass Menschen auf tief in der Psyche verwurzelte kognitive Verzerrungen (der Fachbegriff lautet „Bias“) zurückgreifen, um mit der Masse und Komplexität der Angebote umzugehen. Daraus folgte die Erkenntnis, dass das bisherige Modell der Entscheidungsfindung überarbeitet werden musste.

Wo Kaufentscheidungen getroffen werden: die «messy Middle»

Im Zentrum des neuen Modells liegt die messy Middle – eine komplexe Region zwischen Anreizen und dem Kaufabschluss. In diesem unübersichtlichen Gelände werden Kunden gewonnen oder sie wandern ab.

In der messy Middle suchen Nutzer nach Informationen über Produkte und Unternehmen und werten die gefundenen Daten anschliessend aus. Das entspricht zwei unterschiedlichen mentalen Verhaltensweisen: dem Erforschungsmodus (expansive, ausweitende Aktion) und dem Bewertungsmodus (reduktive, einschränkende Aktion). Was immer eine Person mit den vielen verschiedenen Online-Informationsquellen – seien es Suchmaschinen, soziale Medien, Portale und Dienstleister oder Rezensions- und Bewertungsportale – tut, lässt sich einer dieser beiden Verhaltensweisen zuordnen.

Nutzer durchlaufen diese beiden Prozesse im Rahmen der Entscheidungsfindung wieder und wieder – so lange, wie sie für eine Kaufentscheidung benötigen.

Diese kognitiven Verzerrungen beeinflussen Kaufverhalten und Entscheidungsfindung

Während die Nutzer in der messy Middle mit Erforschung und Bewertung beschäftigt sind, formen kognitive Verzerrungen – Bias – ihr Kaufverhalten und beeinflussen die Entscheidung für oder gegen ein Produkt.

Es gibt unzählige solcher Bias und viele dieser Mechanismen waren schon lange vor der Erfindung des Internets bekannt. Im Folgenden findet eine Beschränkung auf sechs Bias statt, die heute einen besonderen Einfluss auf unsere Kaufentscheidungen haben.

  1. Produktmerkmale: bestimmte Produktmerkmale, auf die Konsumenten in der jeweiligen Kategorie besonders Wert legen – bei Handys z. B. auf die Megapixel-Anzahl der Kamera, bei Mobilverträgen auf das Datenvolumen.
  2. Sofortige Verfügbarkeit: die zeitnahe Bereitstellung des Produkts, etwa durch kurze Lieferzeiten.
  3. Soziale Bestätigung (auch „Social Proof“): Empfehlungen und Rezensionen anderer, beispielsweise in Form von Bewertungen auf Plattformen.
  4. Verknappung: eingeschränkte Verfügbarkeit eines Produkts, bedingt etwa durch geringen Lagerbestand.
  5. Expertenurteil (oder „Authority Bias“): Bewertungen von Profis, Gütesiegel und andere Quellen, denen der Nutzer vertraut.
  6. Bonuszugabe: eine kostenlose Zugabe, selbst eine, die nicht direkt etwas mit dem gekauften Produkt zu tun hat.

Diese Bias bildeten die Grundlage eines umfassenden Shopping-Experiments, bei dem realistische Kaufszenarien in den Kategorien Mode (Jeanshosen), Elektronik (TV-Geräte), Kinderspielzeug, Kosmetik (Feuchtigkeitscreme fürs Gesicht), Einrichtung (Sofas) und Laufschuhe simuliert und mit Käufern durchgespielt wurden.

Dazu wurden die Teilnehmer im ersten Schritt dazu aufgefordert, ihre Lieblings- und zweitliebste Marke in jeder Kategorie auszuwählen. Anschliessend mussten sie sich jeweils zwischen zwei Marken entscheiden – die Simulation wurde dabei einem echten Online-Shop nachempfunden.

Durch den Einsatz bzw. die Optimierung der verschiedenen Bias wurde so untersucht, ob einige Teilnehmer danach eine andere Marke bevorzugten als zuvor. Als extremer Fall wurde in jeder Kategorie eine Fantasiemarke angeboten, die keinem Käufer bekannt sein konnte.

Das Ergebnis: Selbst der am schlechtesten abschneidende Anbieter, eine fiktionale TV-Geräte-Marke, konnte 37 Prozent der Käuferpräferenz vom zuerst genannten Favoriten auf sich ziehen, wenn er mit entsprechenden Vorteilen «getunt» wurde, darunter eine Fünf-Sterne-Bewertung und eine verlängerte Garantie zum selben Preis. Am anderen Ende der Skala hat sich eine fiktive Kinderspielzeugmarke 56 Prozent der Verbrauchervorlieben geholt, wenn alle sechs Bias zu ihrem Vorteil aufgebessert wurden.

Unser Experiment hat gezeigt, dass Grundlagen aus der Verhaltensforschung – samt den zugehörigen Verhaltens- und Informationsbedürfnissen – bei intelligenter und verantwortungsvoller Umsetzung mächtige Werkzeuge sind, mit denen Kundenpräferenzen in der messy Middle gewonnen und verteidigt werden können.

Als Werbetreibender in der messy Middle erfolgreich sein

Von aussen betrachtet scheint die messy Middle auf dem Weg zum Kaufabschluss ein unwegsames und unübersichtliches Gelände. Man sollte dabei aber nicht vergessen: Der Käufer selbst nimmt diese Abläufe nicht bewusst wahr, für ihn ist dies alles Teil des gewohnten Kaufprozesses. Unser Ziel ist daher nicht, die Nutzer aus dieser „Schleife“ zu holen. Wir müssen ihnen vielmehr innerhalb dieses Prozesses die Informationen und die Bestärkung anbieten, die sie für ihre Entscheidung benötigen.

Glücklicherweise gelten dabei für alle dieselben Spielregeln, egal, ob sie in ihrer Branche ein David oder ein Goliath sind.

  • Mit Markenpräsenz sorgst du dafür, dass dein Produkt oder deine Dienstleistung für den Kunden sichtbar und greifbar ist, während er oder sie das verfügbare Angebot erforschen.
  • Wenn du Grundlagen aus der Verhaltensforschung intelligent und verantwortungsbewusst einsetzt, kannst du Nutzern, die die verfügbaren Optionen bewerten, ein überzeugendes Angebot machen.
  • Verkleinere die Lücke zwischen Anreiz und Kaufabschluss, damit bestehende und potenzielle Kunden nur für möglichst kurze Zeit mit anderen Marken in Kontakt kommen.
  • Mit flexiblen, fähigen Teams, die funktionsübergreifend aktiv sind und Entscheidungen treffen können, vermeidest du die klassische Unterteilung in den Branding- und den Performance-Bereich. Eine solche Silobildung führt nämlich dazu, dass nicht alle Wegstücke in der messy Middle erfasst werden.

In der vollständigen Abhandlung findet man weitere Informationen über die messy Middle des Kaufprozesses, die genutzten Grundlagen aus der Verhaltensforschung sowie Empfehlungen, mit denen du diese Erkenntnisse umsetzen kannst.

Dieser Artikel von Alistair Rennie, Jonny Protheroe und Dr. Verena Sander erschien zuerst im November 2020 auf thinkwithgoogle.com und wurde hier geringfügig in der Formulierung und Rechtschreibung adaptiert.

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