In der klassischen Medienwelt war Reichweite ein knappes Gut. Wer gesehen, gelesen oder gehört werden wollte, musste Zugang zu etablierten Kanälen haben: Zeitungen, Radio, Fernsehen. Sichtbarkeit war teuer, begrenzt und an Gatekeeper geknüpft. Mit dem Aufstieg von Social Media veränderte sich vieles – und mit TikTok vielleicht sogar alles.
Der TED-Auftritt von TikTok-CEO Shou Chew vom April 2023 bietet einen spannenden Einblick in eine neue Ära der Content-Distribution. Er zeigt, wie sich Sichtbarkeit nicht mehr an sozialen Netzwerken, sondern an Interessen orientiert – und welche Potenziale und Risiken damit verbunden sind.
Vom sozialen Graph zur Interessenmaschine
Während frühere Plattformen wie Facebook oder Instagram Reichweite vor allem über soziale Verbindungen und Follower-Strukturen aufgebaut haben, basiert TikTok auf einem anderen Prinzip: Der Algorithmus interessiert sich nicht dafür, wen du kennst, sondern wofür du dich interessierst. Empfohlen wird, was dich höchstwahrscheinlich anspricht – und das auf Basis feinster Signale wie Verweildauer, Likes oder Shares. Das Resultat ist eine radikale Umkehr: Auch wer keine Follower hat, kann viral gehen. Auch wer keine Marke ist, kann gehört werden. Auch wer nichts verkauft, kann Relevanz erzeugen.
Was das für Unternehmen bedeutet
Für Marken und kleine Unternehmen ist diese neue Logik ein Geschenk. Sichtbarkeit ist nicht länger exklusiv. Ein gutes Video, eine originelle Idee, ein echter Moment kann reichen, um Hunderttausende zu erreichen. TikTok wird zur Entdeckungsmaschine für Produkte, Ideen und Menschen. Der Fall eines Taco-Restaurants in Arizona, das durch TikTok über eine Million US-Dollar Umsatz generierte, ist nur ein Beispiel von vielen.
Chancen für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Die Demokratisierung der Reichweite betrifft aber nicht nur Unternehmen. Auch Lehrerinnen, Wissenschaftler oder Kulturschaffende können neue Zielgruppen erschliessen. TikTok-CEO Chew nennt Beispiele wie «Chemical Kim», die Chemie unterhaltsam erklärt, oder Claudine, eine Englischlehrerin aus Arkansas. Wissenschaftliche Inhalte («STEM») haben inzwischen über 116 Milliarden Views auf TikTok. Selbst Literatur erlebt mit dem Trend «BookTok» eine Renaissance.
Grenzen und Verantwortung
Doch Reichweite ohne Zugangshürden bringt auch Herausforderungen mit sich. Die Suchtgefahr ist real, wie Chew selbst zugibt. TikTok versucht gegenzusteuern – mit Warnungen bei übermässigem Konsum, Zeitlimits für Jugendliche und Tools für Eltern. Auch sexualisierte Inhalte, Challenges mit Gefahrenpotenzial und Desinformation werden moderiert. Die Moderation liegt in den Händen zehntausender Menschen und wird zunehmend durch KI unterstützt.
Transparenz und Vertrauen
Besonders in westlichen Demokratien steht TikTok wegen seiner Verbindung zu China unter Druck. Der Konzern antwortet mit Transparenz: Daten US-amerikanischer Nutzer werden in den USA gespeichert, von US-Firmen verwaltet und sollen bis Ende 2025 komplett ausgelagert sein. Drittparteien bekommen Einblick in den Quellcode, Forschende können das Plattformverhalten analysieren. Ob das reicht, um langfristiges Vertrauen zu sichern, wird sich zeigen.
Sichtbarkeit neu gedacht
TikTok hat das Prinzip der Reichweite auf den Kopf gestellt. Nicht mehr Netzwerke bestimmen den Erfolg, sondern Resonanz. Nicht mehr Beziehungen, sondern Relevanz. Das ist eine Chance für viele, die vorher unsichtbar waren. Und eine Herausforderung für alle, die Verantwortung für Inhalte, Konsum und gesellschaftliche Wirkung übernehmen wollen. Die Demokratisierung der Reichweite ist kein Wert an sich – aber sie ist ein Werkzeug. Und wie wir es nutzen, bestimmt, ob daraus ein Fortschritt wird.
Quellen
- Beitragsbild von Jonathan Kemper
- TikTok CEO Shou Chew on Its Future — and What Makes Its Algorithm Different | Live at TED2023
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